Medical Humanities

Sandro Spinsanti

MEDICAL HUMANITIES

in Literatur in Medizin - Ein Lexikon

Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005

pp. 516-519

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Unter dem Begriff M.H. wird im englischen Sprachgebiet ein weites Feld erfasst, das folgende Gebiete einschließt: (1) Den Gebrauch der Künste in der  Therapie (Literatur, Dichtung, Musik, Malerei) und im Umgang des Kranken mit der Krankheit ( Gesundheit und Krankheit); (2) die Bedeutung der Künste in der Mitteilung wichtiger Botschaften an die Bevölkerung für Entwicklung und Aufrechterhaltung der Gesundheit; (3) den Beitrag der Künste und Humanwissenschaften für die interdisziplinäre

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Forschung und die Ausbildung im Gesundheitswesen. Auch in anderen  Sprachen wird auf den Begriff zurückgegriffen. Nur im Spanischen spricht man von «humanidades medicas». Die wörtliche Übersetzung von M.H. ergibt meist keinen Sinn. Die Synonyme öffnen den Weg zu unterschiedlichen Bedeutungen; eine direkte Übersetzung ergibt einen anderen Sinn, wenn man von «Humanisierung der Medizin» oder «medizinischem Humanismus» oder «Medizin und Humanwissenschaften» spricht. Den in medizinischen Feldern Tätigen ist seit jeher an einem Austausch mit den Künsten gelegen. Traditionsgemäß gehörten die  Ärzte zu den Gebildeten, die auch (sprachliche) Kenntnisse der klassischen Literatur besaßen. Die Entwicklung der M.H. basiert auf dem Hintergrund einer langen Tradition, die Medizin und Humanwissenschaften verbindet. Die jüngste Geschichte der M.H. beginnt in den 1960er Jahren in den USA. Am Ursprung der Bewegung findet sich eine religiöse Inspiration, verbunden mit einer pädagogischen Sorge. Eine kleine Gruppe von geistlichen Helfern und Kaplanen der Universitäten und medizinischen Fakultäten gründeten ein «Committee on Medical Education and Theology». Sie waren v.a. besorgt über die Tendenz in der Medizin, die technischen Fakten immer mehr von den im weitesten Sinn menschlichen Aspekten und Bedürfnissen zu trennen, und identifizierten den Ursprung der »Depersonalisation« der medizinischen Praxis in der Lehre, die sich auf eine Art «Medizin als Mechanik» konzentriert ( Bioethik,  Ethik in der Medizin). Die Gründer des Committee wollten eine Veränderung dieser Tendenz durch eine Umorientierung in der Ausbildung der Studenten bewirken, indem sie wieder menschliche Werte («human values») ins Zentrum der ärztlichen Praxis stellten. Die Begegnung zwischen «humanities» und Medizin ― also die Geburt der M.H. in der heutigen Bedeutung des Ausdrucks ― geht v.a. auf Edmund Pellegrino zurück. Pellegrino hat mehrfach auf den ungenauen Gebrauch der «humanities» in Beziehung zur Medizin aufmerksam gemacht. Im Prozess der Ausdifferenzierung kam es zu einer Unterscheidung von Bioethik und Philosophie sowie zu deren Abkoppelung von den M.H. Obwohl sich die drei Bereiche teils überlappen, macht eine Unterscheidung Sinn. Hierbei nehmen die M.H. die weiteste Perspektive

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ein; sie sind nicht synonym mit Bioethik oder Philosophie der Medizin. Nach Pellegrinos Vorschlag versteht man unter Bioethik im strengen Sinn eine Untergruppe der Moralphilosophie, die sich mit menschlichen Eingriffen in den Lebensprozess beschäftigt. Die Philosophie der Medizin hingegen ist eine systematische Reflexion über die medizinische Praxis, ihre Legitimation und die sie unterhaltenden anthropologischen und sozialen Konzepte. Grenz- übergreifend und nicht auf Europa beschränkt ist das Unbehagen bezüglich immer stärker werdenden medizinisch-wissenschaftlichen und technologischen Ansätzen in der Medizin. Das, was in Europa und in Amerika unter M. H. verstanden wird, kann allerdings nicht auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Besonders im englischsprachigen Europa ist die Bezeichnung M.H. geläufig. Die reichhaltigste Informationsquelle ist hier die «Medical Humanities Resource Database» des University College of London. Die Idee der Datenbank wurde von der «University of New York Literature, Arts and Medicine Database» inspiriert, sie hat sich jedoch auf eine besondere Art entwickelt. Die Webpage will denen ein universell zugängliches Hilfsmittel sein, die sowohl auf dem Gebiet der Erziehung als auch der Künste und Humanities in der Medizin arbeiten (www.pcps.ucl.ac.uk/ cmhl). Für den italienischen Sprachraum ist es das «Istituto Giano per le Medical Humanities» in Rom (www.istitutogiano.it), das sowohl im Verlagswesen (Zeitschrift: Janus. Medicina: cultura, culture) als auch im Bereich der beruflichen Weiterbildung aktiv ist.

Repräsentationen der M.H. in der Literatur sind in unterschiedlichen Kontexten und immer nur implizit vorzufinden. An dieser Stelle sollen exemplarisch zwei mögliche Reflexe der M.H. in der Literatur vorgestellt werden. Nur hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf verschiedene Dramen William Shakespeares, auf Adalbert Stifter (Die Mappe meines Urgroßvaters, 1841/42), auf zahlreiche Texte der Comedie humaine (1842-48; dt. Die menschliche Komödie) von Honoré de Balzac, Charles Dickens, auf verschiedene Romane und Erzählungen von Fjodor M. Dostojewskij über die  Epilepsie sowie auf Thomas Mann (Der Zauberberg, 1924). Literarische Kultur und Medizin wurden nicht immer als sich ergänzende Aspekte betrachtet. Literatur

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und die Künste können auch als ein individueller Moment des inneren Friedens verstanden werden, welcher der Qualität und Effizienz der medizinischen Praxis schadet. Zur Darstellung dieses Sujets eignet sich das Drama und hier v.a. die Komödie, in der gattungstypisch Kritik ironisch eingebettet und auf diese Weise oft erst darstellbar wird. In der französischen Klassik prägt insbesondere Molière (1622-73) mit seinen Comédies den kritischen Diskurs über Medizin und die menschlichen Krankheiten, auch die Gelehrtenkrankheiten. Die Figur des »medecin« prägt den Titel von drei Dramen (Le médecin volant, 1659; dt. Der fliegende Arzt; Le médecin malgré lui, 1666; dt. Arzt wider Willen; L’amour médecin, 1665; dt. Die Liebe als Arzt) und liefert Stoff für viele seiner Komödien. Besonders einprägsam formuliert Moliere seine Kritik am Verhältnis von Medizin und Mensch in einem Dialog seiner Komödie Le malade imaginaire (1673; dt. Der eingebildete Kranke). Der Dichter verdeutlicht in einem Schlagabtausch zwischen Argan und seinem Bruder Beralde seine negative Meinung über die Medizin und die rein dekorative Funktion der humanistischen Bildung der Ärzte, die in Akademikertum, toten Sprachen und steriler Rezitation der Klassiker besteht. Eine solche Kritik an einer «entmenschlichten» Medizin findet sich transformiert heute v.a. in der zeitgenössischen Lyrik wieder, z.B. in Durs Grünbeins Sammlung Schädelbasislektion (1991) oder in Ulrike Draesners «autopilot»-Gedichten aus dem Gedichtband gedächtnisschleifen (1995). Die Künste allein sind nicht in der Lage, die Ausübung einer guten Medizin zu garantieren, und auch die medizinische Ethik ist nicht ausreichend. In diesem Sinn zeigen sich Repräsentationen der M.H. in der Literatur z.B. auch auf dem Gebiet der -»Arzt-Patienten-Beziehung. Traditionsgemäß wird die Arzt-Patienten-Beziehung im folgenden Modell dargestellt: Wissenschaft und Gewissen auf der Seite des Arztes, Vertrauen und Hörigkeit auf der Seite des Kranken. Wenn diese Beziehung einbricht oder unterbrochen wird, z.B. durch Vertrauensverlust seitens des Patienten, neigen die Ärzte zu folgender Strategie: Sie nutzen die Autorität der Wissenschaft als eine Art Schutzwall, hinter den sie sich zurückziehen und der von den Patienten als unpersönliche Größe verstanden wird, der die Ärzte dienen. Auch die medizinische Ethik

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( Bioethik) kann zum Schutz der Ärzte herangezogen werden. Bei einem Vertrauensverlust bestimmt der Arzt ein korrektes Verhaltensmuster mit dem Versprechen, sich daran zu halten. Arzt und Patient können so in einem System von Medizin und Therapie gefangen bleiben, das unzeitgemäß ist und erneuert werden muss. Das ist das Ziel der von Viktor von Weizsäcker vorgeschlagenen sog. anthropologischen Medizin, die Kritik an einer unpersönlichen Wissenschaft übt und für eine Subjektzentriertheit des Patienten als Menschen in der Medizin plädiert. Sie überschneidet sich inhaltlich mit dem Paradigmenwechsel in der medizinischen Praxis, der in anderen Ländern den Namen M.H. trägt.

BIBLIOGRAFIA

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Edmund D. Pellegrino, Thomas K. McElhinney: Teaching Ethics, the Humanities, and Human Values in Medical SchoolA ten Years Overview, Washington 1982

Edmund D. Pellegrino: Humanism and the Physician, Knoxville 1979